Quelle: Wolfgang Grabowski


Die Gastleserin Jeanette Baden-Jaber hat am Mittwoch, den 31.01.2018,
bei der Vernissage "Impressionen aus Natur und Architektur" von
Leichlinger Malerin Ulla Pützstück, ihre Geschichte "Der fliegende Teppich"
(eine Geschichte mit ganz viel "Ich") zum Bild von Ulla Pützstück vorgestellt.


"Der fliegende Teppich" (eine Geschichte mit ganz viel "Ich")
von Jeanette Baden-Jaber

Zum Bild von Ulla Pützstück

Ich verharre am Strand und starre auf den Zaun. "Nur weg von hier", denke ich. "Weg. Einfach aufbrechen. Ins Ungewisse. In die Freiheit." Der stummen Drohung der hölzernen Grenzposten entkommen. Aber vielleicht stehe ich ja schon auf der Seite der Freiheit. Und merke es nicht. Vielleicht ist es die Unfreiheit, die auf der anderen Seite des Zauns steht. Vielleicht ist sie es, die aufbrechen will.

Aufbrechen…

Aufbrechen kann man auf vielerlei Art:
"Extern", "in echt" – zu Fuß, mit dem Fahrrad, Auto, Flugzeug oder Schiff.

"Intern", "innerlich" – auf den Flügeln der Fantasie und auf dem weichen Meer aus den Knüpfknoten eines fliegenden Teppichs.

Ich bin als Kind "intern" aufgebrochen, über die Grenzen meiner Heimat hinaus. Richtung Orient. Jahrzehnte später habe ich eine Erzählung über den Libanon geschrieben, insbesondere über die Familie meines Mannes und den Ort, in dem sie lebt, das Palästinenser Camp Nahr el-Bared im Norden des Landes. Nur einen Steinwurf vom Mittelmeer entfernt. Meer ohne Sandstrand. Und ohne Zaun. Dafür mit Militärposten der libanesischen Armee.

Eine Freundin sagte einmal: "Schreib‘ doch mal, wie Du dazu gekommen bist, zum Libanon und zu Deiner Erzählung darüber. Schreib‘ etwas über Dich!"

Was kann das sein ‒ über mich? Über die Familie im Libanon: Ja. Und über den Krieg in Nahr el-Bared im Jahr 2007 auch. Aber über mich? Vielleicht: Warum der Orient? Vielleicht: Warum der fliegende Teppich? Also gut. Ein Versuch. Es war einmal…

…es war einmal ein kleines Mädchen, das Bücher nur so verschlang, mit Michel in der Suppenschüssel steckte, mit Bernhardiner Bootsmann Ferien auf Saltkrokan verlebte, Grizzlies am großen Bärensee begegnete, mit Hanni und Nanni Lehrerstreiche ausheckte, mit Peppi durch den Urwald streifte, und eben auf einem fliegenden Teppich in 1001 Nacht die Himmel des Orients entdeckte…

"Wo ist der Orient?", fragte das kleine Mädchen, als es längst erwachsen geworden war, und zum ersten Mal den Libanon bereiste. Das ist nun über zwanzig Jahre her. Orient – das waren in meiner Vorstellung die prächtigen Kleider, samtenen Kissen, mit Granatäpfeln, Kaktusfrüchten und Maulbeeren gefüllten Obstschalen und die Geschichten aus 1001 Nacht gewesen. Scheherazade, Aladin und Sindbad gehörten ebenso dazu wie Dschinn und Alibaba und die 40 Räuber. Orient bedeutete für mich Leben, Gewusel und Gewimmel im Basar, Farben, der Duft von Gewürzen und schweren Parfüms, kehlige Stimmen, auch Dattelpalmen, Wüstensand, der Ruf des Imam. Und Kamele. Ein einziges habe ich gesehen, im Libanon. Auf einem Schuttberg im Palästinenser Camp Schatila in Beirut.

Die Wirklichkeit, der "echte" Libanon wollte so gar nicht in mein Bild des Orients passen, das ich seit meiner Kindheit bei mir trug. Dieses Land verwirrte mich, zeigte es sich doch arabisch und gleichzeitig westlich geprägt durch die Zeit des französischen Mandats. Ein zerrissenes Land, und doch eins. Ein Land zwischen Orient und Okzident, auf der Suche nach seiner Identität.

Es war im Jahr 2007, als mich die Wirklichkeit ein weiteres Mal auf meinem fliegenden Teppich einholte. Als der Krieg in Nahr el-Bared ausbrach, und wir um das Leben unserer Familie, um das Leben aller Familien von Nahr el-Bared bangten. Eine bewegende und bewegte Zeit.

Wie die Geschichte des Orients. Bewegt wie die Geschichten und die Geschichte von 1001 Nacht. Bewegt wie die Geschichte der Menschheit und unserer Erde. Für mich ist der Orient immer noch bunt, voller Abenteuer und Lebenslust. Und deshalb reise ich bis heute in meiner Fantasie durch diesen aufregenden Teil der Weltgegenden. Auf meinem fliegenden Teppich reise ich, dessen Muster aus den Fäden meiner Jahre gewoben ist. Es ist dieser Teppich, der mich durch mein Leben trägt. Und mit mir meinen Mann und unsere Kinder.

Apropos mein Mann: Musste es also nicht so kommen, dass ich mit ihm einen Araber, einen Orientalen heiratete? Dass mein fliegender Teppich auf genau dieses Menschenkind aus dem Morgenland zusteuerte, das mir den Orient in meine Heimatstadt Solingen, in mein Zuhause brachte?


Derselbe fliegende Teppich, der mich an die Orte meiner Träume bringt.
Über Grenzen hinfort.
Äußere.
Und innere.
Vorbei an Zäunen.
Über Zäune hinweg.
Äußere.
Und innere.
Start und Ziel meines fliegenden Teppichs: Solingen.
Die Route: Bergisches Land. Deutschland. Europa.
Bis an den Rand Eurasiens.
Über’s Mittelmeer.

Von dort kommen viele.
Brechen auf.
Aus unterschiedlichen Himmelsrichtungen kommen sie.
Aber alle über’s Mittelmeer.
Der eigenen Lebenslinie folgend.
Auf Lebenschancen hoffend.
Lebenslinie ― Architektur des Lebens.
Geradlinig. Streng.
Natur des Seins.
Wildwuchs. Gesetz des Stärkeren.
Architektur, Natur – Beides gestaltet.
Gestaltet von wem?
Wer nimmt Maß, berechnet, zeichnet, radiert, zeichnet neu, sich nach Vorgaben, Formeln richtend?
Wer sät, pflanzt, spendet Wasser, Luft, Wärme, Licht, rupft, sät neu, dem Wachstum freien Lauf lassend?
Frei.
Wirklich frei?

Ich stehe am Strand und gucke zwischen den schmalen Holzpfählen hindurch. Meer und Himmel verschmelzen in blauer Ruhe. Das Murmeln der Wellen lockt: "Brich‘ auf! Brich‘ auf!"

Ich setze mich auf meinen Teppich und fliege los.

 

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